Geschichte der Pfarrgemeinde:
„Die kleine Reformation?“

Sowohl Reformation als auch Gegenreformation zeigen im Mühlviertel große Wirkung: So bekennen sich z.B. um 1590 in Freistadt rund 90% der Bevölkerung zur evangelisch-lutherischen Lehre. In Gallneukirchen zeugt heute noch ein Grabstein mit Texten aus der Lutherbibel in der römisch-katholischen Pfarrkirche aus dieser Zeit. Nach dem Dreißigjährigen Krieg weigern sich Tausende evangelische Bauern, der Aufforderung zur ‚Rekatholisierung‘ nachzukommen. Stattdessen nehmen sie das Auswanderungsrecht in Anspruch. Die meisten von ihnen finden in den fränkischen Gebieten von Ansbach-Bayreuth eine neue Heimat.
Die Anfänge der heutigen Evangelischen Pfarrgemeinde Gallneukirchen gehen konkret zurück auf das Wirken des römisch-katholischen (!) Priesters Martin Boos (1762-1825): 1806 wird der aus Huttenried im Allgäu stammende Geistliche zum Pfarrer der Römisch-katholischen Pfarrgemeinde in Gallneukirchen bestellt. Er beobachtet in seiner neuen Umgebung, dass viele seiner Gemeindeglieder trotz aller Frömmigkeit keinerlei Glaubensfreude ausstrahlen. Der ausgezeichnete Prediger versucht darauf hin, den vom Bewusstsein ihrer Sündhaftigkeit und einer Endzeitfurcht belasteten Mitmenschen die biblische Botschaft von der Rechtfertigung durch den Glauben an Christus zu vermitteln, die aus dieser Trost- und Hoffnungslosigkeit befreit.

Nachdem ein Bauer im Wahn, rettungslos verdammt zu sein, Selbstmord begeht, hält Boos am 8.9.1810 in der Frühmesse eine denkwürdige Predigt. Sätze wie ‚Ein Christ soll und muss christlich leben, fromm sein, gute Werke tun,…aber nie glauben, dass er vor Gott gerecht und heilig werden könne; die rechte Heiligkeit haben wir nicht aus unserem Tun, sondern dem Tun und Leiden Christi zu verdanken‘ oder ‚Ich möchte nicht im Himmel sein, wenn sich jeder den Himmel mit eigenen Werken selbst verdienen könnte,…denn da würde jeder mehr getan und gelitten haben wollen und es wäre Stolz, Neid und Eifersucht im Himmel wie auf Erden. Aber wenn Christus den Himmel allein verdient hat und alle aus Gnade darin sind, dann ist Friede und Ruhe zu hoffen‘ wirken für viele seiner Zuhörer befreiend und erwecken in ihnen große Begeisterung im Glauben.

Pfarrer Martin Boos, r.k.

Diese greift bald auf große Teile der Gemeinde über. Eine zwar kleinere, aber einflussreiche Schar von Gegnern und Neidern bezichtigt Boos ob solcher Aussagen als ‚Schwärmer‘ und ‚Freund der Protestanten‘. Sie erzwingt ein Eingreifen der kirchlichen Behörden. 1815 wird Boos eine ‚Nachdenkpause‘ verordnet, die er im Karmelitenkloster in Linz verbringt. Im Herbst 1817 kehrt er nach Deutschland zurück, wirkt u.a. bis zu seinem Tod als Seelsorger in Sayn/Linz am Rhein und bleibt stets sowohl seiner tiefen, biblisch orientierten Christusfrömmigkeit als auch seiner Kirche treu.
Seinen Anhängern in Gallneukirchen „kurz ‚Boosianer‘ genannt und der Sektiererei beschuldigt“ wird lange der Übertritt zur evangelisch-lutherischen Kirche verwehrt (1821 suchen 64 Personen vergeblich darum an).Das hindert sie nicht, stundenlange Fußmärsche zu den evangelischen Gottesdiensten in den Bethäusern von Eferding, Thening, Scharten und Wallern auf sich zu nehmen. Erst 1846/47 werden sie als Evangelische anerkannt und finden Anschluss an die Evangelischen Gemeinden Thening bzw. Linz.

1862 zählt die kleine Schar rund 100 Mitglieder: 60 davon sind in Alberndorf gemeldet, 14 in Gallneukirchen, 9 in Reichenau und 15 in Waldburg. Mit Unterstützung des Linzer Pfarrers Friedrich Urbauer erreichen sie die Genehmigung für den Bau einer evangelischen Volksschule (auf einem von Michael Weikersdorfer geschenkten Grundstück, Gemeinde Alberndorf), die 1862 eingeweiht wird. Hier werden von nun an auch die Gottesdienste gefeiert. Unter der Führung von Josef Gilhofer aus Hirschstein, dem ‚letzten Boosianer‘, wird der Entschluss zur Gründung der Evangelischen Gemeinde Weikersdorf als Tochtergemeinde der Pfarrgemeinde Linz gefasst. Am 15.7.1870 wird die Gemeindegründung vom Oberkirchenrat bewilligt, zum ersten Kurator Franz Riener aus Matzelsdorf gewählt.
Der erste Pfarrer der Gemeinde, Ludwig Schwarz (1833-1910, geb. in Melk), tritt 1871 seinen Dienst an, zunächst noch als Vikar der Tochtergemeinde von Linz. Vom Leben und Wirken Martin Boos tief beeindruckt, verlässt er gemeinsam mit seiner aus Triest stammenden Ehefrau Cécile seine attraktive Pfarrstelle in Görz und versteht seinen Weg nach Gallneukirchen als Berufung. Seinen Amtssitz verlegt er in Übereinkunft mit dem Presbyterium von Weikersdorf nach Gallneukirchen. Dem schon bald eingereichten Antrag der Tochtergemeinde auf Konstituierung als selbständige Pfarrgemeinde A.B. Gallneukirchen wird nach Zustimmung der k.k. Statthalterei von Oberösterreich vom Oberkirchenrat mit Erlass vom 19.11.1872 stattgegeben.

Pfarrer Ludwig Schwarz

Das größte Zimmer der Pfarrwohnung im ‚Rienerhaus‘ in der Hauptstraße (Kurator Riener erwirbt 1873 das Haus; damals Gasthaus, später abgerissen und neu gebaut, als ‚Ludwig-Schwarz-Haus‘ und Schulgebäude des Diakoniewerkes bekannt) wird zunächst als Betsaal verwendet.
1874 erwirbt die Gemeinde das große ehemalige Starhembergische Pflegegerichtsgebäude an der Hauptstraße, Hausnummer 1, in dem einst die Protestanten als Ketzer verurteilt worden waren. Dieses Gebäude dient fortan als Pfarrhaus und bietet Räumlichkeiten für Gottesdienste, die Pfarrwohnung und Quartier für die ersten ‚Pfleglinge‘ (=kranke und notleidende Menschen aller Altersstufen, denen sich insbesondere Cècile Schwarz widmet), aber auch für die ersten Diakonissen.
Für Schwarz zeigt sich christlicher Glaube in tätiger Nächstenliebe. Um den Bedürftigen und vielfachen Nöten ausgesetzten Menschen, denen er begegnet, Hilfe und Heimat zu verschaffen, gründet er 1874 den ‚Verein für Innere Mission‘ (später ‚Diakonissenanstalt‘ bzw. heute ‚Evangelisches Diakoniewerk Gallneukirchen‘) und in diesem Rahmen später das erste österreichische Diakonissenmutterhaus mit dem Sitz in Gallneukirchen (1877). Viele der Schwestern kommen aus den großen Toleranzgemeinden um Wels. Sie zeichnen sich durch hohe Einsatzbereitschaft für hilfsbedürftige Menschen aus, sind getragen von der Gemeinschaft gleichgesinnter Frauen und motiviert durch eine biblisch orientierte, tiefe Frömmigkeit. Heute, gut 130 Jahre später, leben noch knapp 20 Diakonissen im Haus Abendfrieden im wohlverdienten Ruhestand.

Evangelisches Pfarrhaus in Gallneukirchen

Rasch entstehen in und um Gallneukirchen eine Vielzahl von ‚Anstaltsgebäuden‘ mit Einrichtungen für ältere, kranke und behinderte Menschen. An der Volksschule in Weikersdorf wirkt der Schweizer Lehrer Jakob Bollinger (1844-1920). Es kommt zur Gründung einer ‚Waisen- und Rettungsanstalt‘, die für die über 100 betreuten Kinder später in zwei großen Bauabschnitten (1884/1896) ein Wohnheim und eine Kapelle bekommt.
1876 zählt die kleine Pfarrgemeinde 156 Mitglieder. Dass die Diaspora schon damals die Gemeindearbeit geprägt hat, ersehen wir daran, dass Schwarz schon bald nach Amtsantritt alle 3 Wochen einigen Schülern des Freistädter Gymnasiums Religionsunterricht erteilt. In Liebenau betreut er eine in Diensten des Herzogs von Coburg stehende evangelische Familie.
Die Aufgaben in der Pfarrgemeinde und der Diakonissenanstalt wachsen: Um beiden Bereichen besser gerecht zu werden, werden die bislang in einer Person vereinigten Ämter des Gemeindepfarrers und das des Leiters der Diakonissenanstalt voneinander getrennt. Während Schwarz offiziell Pfarrer der Gemeinde bleibt, wird der aus Pilsen berufene Prediger Carl Julius Bauer 1898 erster Rektor der Diakonissenanstalt.
Die steigende Zahl der Gemeindeglieder bzw. pflegebedürftiger Personen in den Anstaltseinrichtungen veranlassen die verantwortlichen Gremien zum Bau einer eigenen Kirche. Am 5.10.1904 kann damit begonnen werden. Am 15.8.1906 schließlich wird die im neugotischen Stil gestaltete Christuskirche eingeweiht.

Christuskirche Gallneukirchen (Frühere Innenansicht mit der alten Orgel)

Diakonissenmutterhaus Bethanien

Mit der Fertigstellung und Einweihung des neuen Diakonissenmutterhauses ‚Bethanien‘ am 1.6.1909 ist endgültig jene Gebäudeanordnung gegeben, die bis heute das Bild des Pfarrzentrums prägt: Kirche, Mutterhaus, Pfarrhaus und Ludwig-Schwarz-Haus liegen alle in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander und sind gegliedert durch Grünflächen und Wege.
Das Wachstum der Gemeinde (durch Zuzug – so findet sich z.B. 1909 erstmals auch in Pregarten eine evangelische Familie) schreitet in den ersten Jahrzehnten des 20.Jhdts. rasch voran (Bad Leonfelden, Freistadt, Engerwitzdorf) und wird auch durch die Entbehrungen, die der Erste Weltkrieg mit sich bringt, nicht gebremst. 1925 weist die Gemeinde bereits einen Seelenstand von 890 Personen auf. Unter den Nachfolgern von Ludwig Schwarz prägen vor allem Senior Friedrich Saul (von 1916 bis 1938 in Gallneukirchen) und Rektor August Kornacher (1929-1939) die Entwicklung von Gemeinde und Diakonissenanstalt.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten hat auch für Pfarrgemeinde und Diakonissenanstalt Folgen. Nach dem Einmarsch Hitlers in die deutsch besiedelten Randgebiete von Böhmen und Mähren (1938) werden die südlichen Gebiete des Böhmerwaldes in die Gaue „Oberdonau“ bzw. „Niederdonau“ gegliedert. Die Evangelischen im Böhmerwaldgebiet von Oberdonau werden als Filialgemeinden (der Pfarrgemeinde Gallneukirchen) Krumau und Kaplitz zusammengefaßt.

Ein beschämendes Kapitel dieser Zeit stellt die Euthanasieaktion von 1941 dar, in deren Rahmen 64 behinderte Menschen aus der Diakonissenanstalt von Gallneukirchen nach Hartheim gebracht und von den Nationalsozialisten vernichtet werden. Ein steinernes Mahnmal, das 1991 in der Nähe des Mutterhauses errichtet wird, erinnert an dieses schreckliche Ereignis, über dem lange der Mantel des Schweigens gelegen hat.

Die Flüchtlings- und Wanderbewegungen der Kriegs- und Nachkriegszeit führt zu neuen Zuzügen von Evangelischen ins Untere Mühlviertel. Die seelsorgerlichen Anforderungen in der Diaspora steigen – mittlerweile obliegen sie auch wieder dem Rektor der Diakonissenanstalt bzw. Gemeindepfarrer in einer Person (seit 1941 Pfarrer Erwin Schlachter aus Gnesau in Kärnten), wenn auch unterstützt von Vikaren, Konrektoren, Pfarrern, Diakonissen und anderen Mitarbeitern.

Zur Diasporaarbeit gehört die Abhaltung von Gottesdiensten: Für die Evangelischen im Raum Bad Leonfelden zunächst im Schloss Brunnwald, später in der Hauptschule des aufstrebenden Marktes. Die evangelischen Gemeindeglieder aus dem Raum Freistadt treffen sich zu Gottesdiensten regelmäßig im Gymnasium, in Pregarten zunächst in Privathäusern, später in einer Kapelle, danach im Feuerwehrdepot. Weikersdorf und Gallneukirchen sind ohnehin feste Predigtstellen. Religionsunterricht und Bibelstunden halten vielfach Diakonissen, Schwestern, die tagelang zu Fuß im großen Pfarrgebiet unterwegs sind, bei Gemeindegliedern übernachten und so ein weites Netz der Seelsorge knüpfen.

Endlich wird der Entwicklung der immer mehr gewordenen Arbeit, die unüberschaubar zu werden droht, Rechnung getragen. Unter Mithilfe des zuständigen Seniors Hubert Taferner aus Linz erarbeiten die Verantwortlichen in Gemeinde und Diakonissenanstalt 1964 eine Gemeindeordnung: Pfarrgemeinde und Diakoniewerk werden organisatorisch getrennt, das Verhältnis zueinander geregelt, die Zusammenarbeit von Gemeindepfarrer und Rektor festgelegt.

Nachfolger von Pfarrer Schlachter im Rektoramt des Diakoniewerkes werden Pfarrer Kurt Hölzel (von 1966-1981 Rektor) und Pfarrer Gerhard Gäbler (1975-2008). Pfarrerin Christa Schrauf übernimmt dieses Amt 2008.
Das Gemeindepfarramt übernimmt Pfarrer Robert Cepek (von 1965 bis 1985 in Gallneukirchen). Pfarrer Günter Wagner betreut diese Pfarrstelle seit 1987, zunächst noch als Vikar, seit 1989 als Pfarrer, 2011 stellte er sich der Wiederwahl und wurde mit großer Mehrheit bestätigt.

KuratorInnen der jüngeren Vergangenheit bzw. Gegenwart sind Franz Stadler (1957-1975), Friedemann Schlachter (1976-1985), Friedrich Veraguth (1985-1993), Georg Schuller (1994-1999), Mag. Rudolf Sotz (2000-2011) und Friederike Haller (seit 2012).
Gemeinde und Diakoniewerk präsentieren sich heute in einem heutigen Anforderungen angemessenen Kleid. Vieles hat sich verändert. Geblieben ist die Gewissheit, dass in Christus ‚der Glaube‘ gilt, ‚der in der Liebe tätig ist‘ (Galater 5,6).

Günter Wagner


Literaturhinweise:
– Evangelische Pfarrgemeinde A.B. Gallneukirchen (Hg.) 125 Jahre Evangelische Pfarrgemeinde A.B. Gallneukirchen. Festschrift. Galllneukirchen 1997.
– Evangelische Pfarrgemeinde und Evangelisches Diakoniewerk Gallneukirchen (Hg.)
Auf dein Wort hin. 100 Jahre Evangelische Gemeinde – Diakonische Arbeit Gallneukirchen. Festschrift. Mit Beiträgen von Grete Mecenseffy, Robert Cepek, Kurt Hölzel u.a. Linz/Gallneukirchen 1973.
– Goßner, J. (Hg.): Predigten auf alle Sonn- und Festtage im Jahre, von Martin Boos. Zwei Bände. Berlin 1830.
– ders. (Hg.): Martin Boos, der Prediger der Gerechtigkeit. Sein Selbstbiograph. Leipzig 1826.
– Heimatverein/Gemeinde Gallneukirchen (Hg.): Gallneukirchen. Ein Heimatbuch für die Gemeinden Gallneukirchen, Engerwitzdorf, Unterweitersdorf und Alberndorf. Mit Beiträgen von Gottfried Fitzinger, Franz Jäger, Rudolf Köttsdorfer u.a… Freistadt/Gallneukirchen 1982.
– Oberösterreichischer Evangelischer Verein für Innere Mission (Hg.): Martin Boos, ein Prediger der Gerechtigkeit. Gallneukirchen 1927.
– Temmel, Leopold: Evangelisch in Oberösterreich. Werdegang und Bestand der Evangelischen Kirche.
Linz 1982.
– Archiv des Evangelischen Diakoniewerkes Gallneukirchen
– Archiv der Evangelischen Pfarrgemeinde A.B. Gallneukirchen

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