Liebe Gemeindemitglieder, liebe Leserinnen und Leser, liebe Freundinnen und Freunde!
Der Wochenspruch für die kommende Woche lautet: Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft noch seine Güte von mir wendet. (Psalm 66,20)
Der Psalmbeter spricht aus einer Erfahrung heraus: „Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft noch seine Güte von mir wendet.“ Er macht gute Erfahrungen mit dem Beten, lässt tiefes Vertrauen in Gottes Güte erkennen.
Es wird unter uns welche geben, die dem Psalmbeter nachempfinden und andere, die das so nicht sagen können. Denn unsere Erfahrungen mit dem Gebet sind unterschiedlich. Der eine hat das Beten von Kind auf gelernt. Der andere belächelt das Beten als ein Reden ins Nichts hinein. Manche stoßen sich an bestimmten Gebetsformen, die anderen am so genannten freien Beten. Wieder andere haben das Beten aufgegeben, weil sie keinen Sinn darin sehen. Vermutlich gibt es auch Stimmen, die sagen, dass Beten zumindest psychologisch positiv zu bewerten sei, weil es hilft, Gefühle wie Freude oder Leid auszudrücken. In unserer materialistischen Welt gewinnt das Gebet neu an Bedeutung bei Menschen, die spüren, dass Konsum und Profit allein nicht befriedigend sind. Meditationsformen östlicher Religionen sind attraktiv geworden, ebenso die jüdisch-christliche Tradition des Gebetes in der Stille, denken wir etwa an die Mystiker.
Fragen wir einmal grundsätzlich: „Hilft Beten wirklich?“ Eine Stimme in mir drückt den Zweifel daran aus, denn wenn ich mich umsehe in dieser Welt, sehe ich Elend und Not, Ungerechtigkeit, unzählige Opfer von Gewalt und Unterdrückung, nicht nur, aber gerade in Zeiten der Corona-Pandemie. Diese Stimme in mir antwortet auf die Frage „Hilft Beten wirklich?“ mit „Nein.“ Beten hilft nicht wirklich, jedenfalls nicht so, wie es sich viele Menschen vorstellen: Man müsse nur richtig, inständig, beharrlich genug beten, dann würde Gott die Bitten schon erhören. In dieser Logik wären die Beterinnen und Beter letztlich selbst schuld, wenn das Anliegen ihrer Gebete nicht erfüllt würde, denn dann hätten sie eben nicht richtig genug, nicht inständig genug, nicht beharrlich genug gebetet. Solche Meinungen tauchen auf in Zeiten wie diesen. Wer genug betet und glaubt, der sei ausreichend vor dem Corona-Virus geschützt, behaupten Fundamentalisten quer durch alle Religionsgemeinschaften. Welch ein Unsinn! Gott ist doch kein magisches Gegenüber des Menschen, dem man durch richtiges Glauben und Beten die Erfüllung eigener Wünsche abtrotzen könnte. – Deshalb seien Sie vorsichtig, liebe Gemeinde, wenn Ihnen jemand in einer Krisensituation wie z.B. Krankheit oder Trauer erklärt: „Du musst nur fest beten, dann wird alles wieder gut.“ Er meint es wahrscheinlich gut. Aber mit Vertrauen auf die Güte Gottes hat das wenig zu tun, vielmehr mit versteckter Werkgerechtigkeit im frommen Kleid.
Ich glaube aber auch nicht, dass Beten nicht bzw. nichts hilft. Beten heißt, große Wünsche zu haben, hat die Theologin Dorothee Sölle geschrieben. Wer noch Wünsche hat, ist noch nicht fertig mit sich und der Welt. Wer noch Fragen hat, sich nicht abfindet damit, dass vieles so ist, wie es ist, und dass vieles so bleiben soll, wie es angeblich immer schon war, wer nicht einverstanden ist mit seinem Unglück und der Ungerechtigkeit um ihn herum, der ist noch lebendig. Sölle sagt: „Wer sein Unglück genau benennt, der fordert sein Glück!“
Beten kann darum vielfältig und vieles sein: Lob, Dank, Klage, sogar Anklage, ja, siehe die Psalmen, sogar Fluch, aber stets wird deutlich: Mir ist es nicht gleichgültig, was mit mir und anderen geschieht. Damit habe ich zwar das Unglück noch nicht besiegt, die Ungerechtigkeit noch nicht überwunden. Aber ich habe mein Verhältnis zu dem, was mich bewegt, geklärt. Beten verändert nicht die Welt, sondern die, die es tun. Auf diese Weise „hilft“ Beten eben doch und wirklich… Dietrich Bonhoeffer hat es treffend einmal so ausgedrückt: „Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen.“ Deshalb können wir Gott loben, ihm dafür danken, ruhig und gelassen zu ihm beten. Möglicherweise ist es das, was den Psalmbeter so freudig sagen lässt: „Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft noch seine Güte von mir wendet.“ Amen.
In der Verbundenheit des Glaubens und des Gebetes
grüßt Sie Ihr Pfarrer Günter Wagner