Liebe Schwestern und Brüder!

Ich schreibe diesen Brief in der Woche vor Palmsonntag, sodass er Euch in der Karwoche erreicht. In diesen Tagen einen Brief zu schreiben, den die Empfänger erst sehr viel später in Händen haben werden, ist riskant. Ich weiß nicht, was in einer Woche sein wird. Werden wir erleichtert seufzen, weil der Gipfel der Krise überschritten ist? Oder werden wir stöhnen, weil sich der Wendepunkt wieder weiter nach hinten verschoben hat und neue, restriktivere Maßnahmen gesetzt wurden?

Ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass wir Karfreitag und Ostern feiern werden. Das wird uns gut tun. Wir werden dorthin schauen, wo Hoffnung aus der Hoffnungslosigkeit erwächst und Gottes Tat den Tod überwindet.

Wir selbst werden mit hineingenommen in diese Bewegung: aus der Finsternis zum Licht, aus dem Tod in das neue Leben. Ich möchte in diesem Brief ein Bild mit Euch teilen, und die Gedanken, die es bei mir ausgelöst hat. Ich bin ein Liebhaber von Holz. Ich liebe die Bäume in unserem Garten und ich liebe unseren Tisch, der aus schönem Apfelholz gefertigt ist. Und ich liebe die geschnittenen Holzscheiben, welche die Jahresringe der Bäume zeigen.

Ich kann an keinem Stand vorbeigehen, der schöne Dinge aus Holz anbietet. Vor zwei Jahren bin ich wieder bei einem solchen Stand gelandet. Einem der Olivenholz anbot in verschiedenen Verarbeitungen. Und bei einem Stück habe ich meinen Augen nicht getraut: Mitten im Kern des Stammes taucht da, klein, aber klar und deutlich wahrnehmbar, das Bild des Gekreuzigten auf. Seitdem begleitet mich dieses Stück Olivenholz. Heute ist die Zeit gekommen, in der ich mit Euch teilen möchte, was es für mich bildhaft verkörpert.

Das Kreuz ist die Mitte                         

Zunächst ist das ganz einfach die Tatsache, dass dieses Bild des Gekreuzigten sich in der Mitte des Stammes befindet, in seiner Kernzone, aus der heraus er wächst. Der Gekreuzigte verbürgt die Echtheit des Lebens und der Botschaft des Jesus von Nazareth. „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben als ein Lösegeld für viele.“ Dieser Weg wurde durchgehalten bis ans Ende. Und er wurde durchgehalten in Liebe. Mit diesem Ende wird nicht Hass gesät, sondern Liebe. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Der Gekreuzigte ist die Manifestation der bedingungslosen und unbedingten Liebe. Diese Liebe überwindet die Zurückweisung, überwindet den Hass. Deshalb steht das Kreuz als Symbol dieser Gottesliebe unabänderlich in der Mitte des christlichen Glaubens. Deshalb ist uns der Karfreitag unverrückbar höchster Feiertag.

Aus dem Kreuz wächst das Leben

Mein Stück Olivenholz scheint diese zentrale Bedeutung des Todes Jesu zu betonen. Und zugleich ist diese Mitte kein Ende, sondern, sozusagen, der Anfang von Allem. Denn aus dieser Mitte heraus wächst der Baum. Das Kreuz ist nicht das Ende, sondern der Anfang. Durch Gottes wunderbare Tat erwächst aus diesem Tod das Leben. Mit der Auferweckung des Gekreuzigten keimt die Saat und bringt Frucht. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“ Mit der Auferweckung Jesu sagt Gott Ja zu diesem Leben. Der, den die Menschen abgelehnt haben, den sie nicht auszuhalten vermochten, der hat ein Leben gebracht, das nicht mehr sterben wird in Ewigkeit, und das Frucht bringt, die nicht mehr vergeht. In Menschenherzen hat diese Liebe Wurzeln geschlagen, sie zum Blühen gebracht, und dazu, in der Erde wurzelnd und dem Himmel sich entgegenstreckend, Frucht zu bringen und neues Leben auszusäen.

…aus diesem Holze geschnitzt

Und schließlich sagt mir mein Stück Holz: Wir selbst, wir Christenmenschen, Frauen und Männer, Kinder und Greise, Gesunde und Kranke sind „aus jenem Holze geschnitzt“, das den Gekreuzigten in sich trägt und schon die Hoffnung und den Mut der Auferstehung in sich birgt. Unverlierbar tragen wir ihn in uns. Hineingenommen sind wir in seine Berufung, jene Liebe zu leben, die vergibt und versöhnt, die hilft und handelt, die Wahrheit spricht und nach der Gerechtigkeit strebt. Jene Liebe, die fähig ist, in der Angst standzuhalten und alle Freude zu teilen. Was auch immer kommen mag, und wohin unsere Wege uns auch führen mögen,- er, der die Liebe in uns begonnen hat, er bleibt uns Grund und Mitte und Ziel der unsterblichen Hoffnung, und des österlichen Jubels:

Christ ist erstanden!

Er ist wahrhaftig auferstanden!

Halleluja!

Mit diesem Ruf grüße ich Euch
in herzlicher Verbundenheit
Euer
Gerold Lehner
Superintendent